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Felice Tavera-Salyutov: England

Corpus Christi College, University of Cambridge

Ich war vom 27.07.-01.09. für ein Forschungsprojekt mit einer Gruppe von anderen Nachwuchswissenschaftler*innen aus aller Welt an der University of Cambridge (UK).

Das Projekt hatte sich aus dem „junior researcher programme“ (http://jrp.pscholars.org/whatwedo/how-it-works/) ergeben, einem Programm, das jährlich sechs 13-monatigem Forschungsprojekte koordiniert, die jeweils von einer*m Doktorand*in oder PostDoc supervidiert werden. Zum Abschluss dieser 13 Monate wollten einige von uns sich noch einmal für ein größeres, gemeinsames Projekt zusammenschließen. Wir waren alle Psychologiestudierende oder frisch -promovierende, aus nahezu allen Ländern der EU, den USA und China. Der Programmdirektor schlug vor, eine multinationale, high-powered Replikation der Prospect Theory (Kahnemann & Tversky, 1979) vorzunehmen. Denn es hatte im Vorhinein einige Kontroversen um die Theorie und ihre Implikationen und Generalisierbarkeit gegeben, und vor allem ist die Prospect Theory das Fundament für viele politische Interventionen, unternehmerische Überlegungen und Prozesse, sodass eine Re-Evaluation geboten schien.

Wir haben also für fünf Wochen im Graduate Student’s dorm am Corpus Christi College gelebt und gemeinsam das Projekt vorangebracht. Die Konzeption, Präregistrierung und Datenerhebung war Teil der äußerst intensiven Vorbereitung gewesen – ansonsten klingt ein fünfwöchiger Forschungsaufenthalt auch durchaus nach Utopie.

Als wir am ersten Tag zusammenkamen, hatten wir bereits einen großen Datensatz zusammen. Wir haben uns dann entschieden, weitere Versuchspersonen zu erheben. Am Ende hatten wir über 4.000 brauchbare Datensätze aus 19 Ländern und in 13 Sprachen. Nun fing die Zeit der Datenauswertung an, zu der wir uns oft in kleinere Gruppen getroffen haben, auch länderspezifische Auswertung gehörte dazu – ich habe also für Deutschland und Österreich mit meiner deutschen Kollegen einige Zusatzanalysen gerechnet. Dann gab es immer wieder Treffen im Corpus Christi College oder der Judge Business School, bei denen wir zentrale Fragen zu den Daten, der Auswertung, und der Interpretation diskutiert haben. Ich war positiv überrascht, wie effizient und produktiv wir als doch relativ große Gruppe solche Diskussionen geführt und uns auf eine gemeinsame Lösung geeinigt haben. Was mich zu dem nächsten Punkt unserer Agenda für diesen Monat bringt: Das Schreiben des Manuskripts. Weil wir die Präregistrierung bereits im Vorhinein verfasst hatten, arbeiteten wir auf dieser Basis am Manuskript. Unser Lead Analyst verfasste den Großteil des Ergebnisteils allein, wir anderen teilten uns in Gruppen auf, um bestimmte Themen in der Einleitung und der Diskussion zu bearbeiten. Außerdem gingen wir an einem Tag in einem sehr langen Meeting das komplette Manuskript durch, wobei Jede*r Änderungen und Ergänzungen vorschlagen durfte. Es war ein sehr fruchtbarer Prozess mit kurzen Diskussionen und schnellem, sehr guten Ergebnis – was mich wieder positiv überrascht hat. Ich war dann schlussendlich mit zwei Kolleginnen für finale Strukturierung des Artikels zuständig, die wir in stundenlangen Treffen mit Diskussion und Ausprobieren schließlich für vollendet erklärten. Außerdem stellten wir für Daten aus dem Land, das wir repräsentierten, noch einen sehr reichhaltigen Appendix zusammen, in dem wir einzelne, explorative Analysen zusammengefasst haben.

Schließlich konnten wir 10 Tage vor Ende des Aufenthalts einen preprint in das Open Science Framework (OSF) hochladen. Ein paar Tage später und mit Einarbeitung einiger Kommentare von hilfsbereiten seniors reichten wir den Artikel dann bei einem Journal ein.

Zusätzlich, also immer, wenn gerade etwas wie Datenerhebung von allein lief, oder wir auf einen Fortschritt der anderen warten mussten, hatten wir sekundäre Aufgaben: Ich habe in dieser Zwischenzeit, dann in den letzten Tagen des Aufenthalts und in der Zeit danach an einem Buchkapitel in „Behavioral Insights for Public Policy“ mitgeschrieben. Außerdem haben wir als Gruppe ein noch nicht online gegangenes tool mit Inhalt gefüllt, welches Organisationen und Wissenschaftler*innen ermöglichen soll, schnell und einfach wichtige und seriöse Studien zu policy outcomes, d.h. Effekten von verschiedenen psychologisch/wissenschaftlich fundierten (politischen) Interventionen zu finden - wie zum Beispiel von nudging, Besteuerung, Verboten und Anreizen. Dafür haben wir Artikel recherchiert, zusammengefasst und auf spezifische Merkmale (Stichprobengröße, zugrunde gelegte Theorie, Funding, Kontext der Forschung und Datenerhebung) gescreent. Nun wird man im online-tool Artikel nach verschiedenen Stichwörtern oder Merkmalen suchen und wissenschaftliche Artikel oder Reports zu dem Thema auswählen können.

In der vorletzten Woche des Aufenthalts hatten wir außerdem im Rahmen einer Posterpräsentation am Corpus Christi College die Gelegenheit, unsere eigenen Projekte vorzustellen. Ich habe mein Masterarbeitsprojekt zu Szenen- und Objektverarbeitung vorgestellt und bin auf reges Interesse gestoßen. Unter anderem habe ich so eine Post-Doc aus Stanford kennengelernt, die meine Fragestellung und mein Experiment von einer entwicklungspsychologischen Perspektive her sehr interessant fand. Wir wollen nun gemeinsam eine kulturvergleichende Studie zu Szenenverarbeitung bei Kindern starten.

Insgesamt kann ich sagen, dass meine Zeit in Cambridge sehr gefüllt und sicherlich streckenweise auch ein wenig überfüllt war. Ich sehe im Nachhinein, wie wichtig es war, ein Jahr vorher eine klare Vorstellung des Projektes zu haben und ein halbes Jahr vorher sowohl die Literatur zu sichten und zu evaluieren, als auch die Präregistrierung zu schreiben, die einem alle wichtigen Fragen stellt: Was ist unsere Hypothese, wie läuft die Datenerhebung ab, wie analysieren wir die Daten, was sind Limitationen und Stärken unseres Projekts? Nach all dieser Vorbereitung waren die fünf Wochen das perfekte Zeitfenster, um alles zu geben, damit das Projekt bis zum Ende unseres Aufenthalts fertiggestellt sein würde.

Aber natürlich war es auch mit einigem Stress verbunden: Wir hingen innerhalb des Teams immer vom Fortschritt der anderen in gewissem Maße mit ab, wir alle standen unter Zeitdruck und hohen Anforderung, gegeben dem großen, komplexen Datensatz und natürlich nicht zuletzt inhaltlichen Fragen. Daher war es umso schöner, dass wir uns gegenseitig unterstützt und ermutigt haben, auf der persönlichen und fachlichen Ebene. Beispielsweise auch, indem wir uns gegenseitig kleine Tutorien gaben – ich hatte beispielsweise schon R-Tutorien gegeben und stellte das in verkürzter Form vor, damit wir für die Auswertung gerüstet sein würden. Außerdem boten die Muttersprachler*innen an, Texte für uns zu redigieren und uns Eigenheiten des wissenschaftlichen Schreibens auf Englisch vor Augen zu führen.

Es war also eine sehr schöne, gemeinschaftliche Erfahrung, durch die ich fachlich und persönlich unheimlich viel lernen durfte und die noch jetzt und auch viel weiter nachwirken wird. Ich konnte mich im Themenbereich Replikation, statistische Auswertung und Auswertung in R, sowie bayes’scher Modellierung und, allgemeiner, Projektkoordination weiterbilden. Außerdem freue ich mich sehr, dass auch eine Forschungskooperation aus dem Projekt entstanden ist, dass ich viele Psychologiestudierende kennenlernen durfte, die jetzt ebenfalls in die Promotion starten, sodass wir uns austauschen und, wenn es thematisch passt, über Zusammenarbeit nachdenken können.

Nicht zuletzt sind solche Aufenthalte natürlich auch persönlich einschneidend; So habe ich einige mir sehr wichtige Freundschaften geschlossen und viel über die verfahrene politische Situation in UK erfahren dürfen. Diese gewissermaßen gegenläufigen Erfahrungen – Verbundenheit, Offenheit, Gemeinsamkeit, Diskurs gegenüber der Abschottung, Nationalismus, Populismus – hat mir in vielerlei Hinsicht zu Denken gegeben.