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Kindheitsgeschichte(n) - dezentrierte Perspektiven, de- und rekonstruktive Lesarten

Workshop vom 06. und 07. 10. 2017 an der Universität zu Köln. Ein Bericht von Leonie Fischer und Christoph Piske

Der Workshop Kindheitsgeschichte(n)- dezentrierte Perspektiven, de- und rekonstruktive Lesarten lud (Nachwuchs-)Wissenschaftler_innen ein, ihre aktuellen Forschungs- und Dissertationsvorhaben vorzustellen. Unter der Leitung von Wiebke Hiemesch und Rafaela Schmid wurde disziplinübergreifend ein Raum geschaffen, Möglichkeiten de- und rekonstruktiver Lesarten von Kindheitsgeschichte und Kindheit anhand aktueller Forschungsvorhaben kritisch zu diskutieren. Die Beiträge gliederten sich in vier Themenblöcke: Theoretische Überlegungen (1), Historische Zugänge (2), ‚Biografische‘ Zugänge (3) und schließlich Selbstreflexionen: Fragen an die Kindheitsforschung (4). Gefördert wurde der Workshop durch die Graduiertenschule der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, deren Geschäftsführerin CAROLINE GAUS (Köln) sich zu Beginn mit einem Grußwort an die Teilnehmenden wandte. ELKE KLEINAU (Köln), MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim), STEFAN NEUBERT (Köln), WOLFGANG GIPPERT (Köln), PETRA GÖTTE (Augsburg) und KARLA VERLINDEN (Köln/Düsseldorf) waren eingeladen, um die Beiträge zu kommentieren und die Diskussionen zu eröffnen.

WIEBKE HIEMESCH (Hildesheim) thematisierte in ihrem Auftaktvortrag Dezentrierte Perspektiven - Kindheiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern als Teil der Geschichte der Kinder im 20. Jahrhundert einen blinden Fleck innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Sie gab zu bedenken, dass die Erziehungswissenschaft selbst an der Herstellung eines Konzepts der idealen Kindheit beteiligt sei, was dazu führe, dass bestimmte Kindheiten nur unzureichend erforscht würden, beispielsweise Kindheiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Hiemesch betonte das Potenzial der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsgeschichte, die gerade die Hervorbringung von Kindheit als gesellschaftshistorisches Konstrukt in den Blick nehme, und sprach sich für eine Dezentrierung ihrer Fragestellungen aus, die sich folglich nicht zwingend an dem Ideal bürgerlich-moderner Kindheit orientieren dürfe. Stattdessen bedürfe es einer Erforschung von Kindheit auch jenseits einer etablierten ‚Schutzmetapher‘ und damit einhergehend einer Erweiterung des bestehenden Verständnisses von Kindheit.

In dem Vortrag Dimensionen der Zeit in Kindheitsgeschichten und –erinnerungen, Betrachtungen der Kindheitsforschung nahm MARKUS KLUGE (Münster) mit Hilfe von Deleuze‘ Konzept von Chronos und Äon das komplexe Verhältnis von Zeitbezügen in 44 Artikeln aus der Zeitschrift Childhood in den Blick. Eine Annahme seiner Forschung ist, dass mit unterschiedlichem Verständnis von Zeitlichkeit verschiedene Vorstellungen von Kindheiten einhergingen. Auch wenn eine zeittheoretische Betrachtung von Kindheit gewisse Grenzen aufweise, betonte Kluge die Wichtigkeit und das Potenzial, welches in dieser Betrachtungsweise stecke. Auf dieser Grundlage kritisierte Kluge es als kurzschlüssig, Erinnerungen an Kindheit und ihre Darstellung als „bloße Rekapitulation von Vergangenem“ zu verstehen. Eine zeittheoretische Untersuchung im Deleuz‘schen Sinne, ermögliche es, die Vielfalt an Denkweisen und Vorstellungen von Kindheit(en) sichtbar zu machen.

MAX GAWLICH (Heidelberg) berichtete über sein geplantes Forschungsprojekt zu Praktiken der Sorge. In seinem Vortrag Kleinkindbetreuung in den 1970er Jahren im deutsch-deutschen Vergleich stellte er zunächst dar, dass die Gruppe der Kleinkinder und deren Betreuung in der Geschichtswissenschaft kaum beachtet werde. Die Bearbeitung dieser Forschungslücke ermögliche einen neuen Einblick in sich wandelnde und sich gegenseitig beeinflussende Produktions- und Reproduktionsweisen der 1970er Jahre, die im Umgang mit Kleinkindern sichtbar würden. Um dies zu untersuchen, betrachtet Gawlich das Modellprojekt Tagesmütter der Bundesregierung (1973-1980), exemplarisch am schwäbischen Landkreis Göppingen und die Krippenforschung des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters in der ehemaligen DDR. Auf Körper- und Beziehungsebene der teilnehmenden Babys, Kleinkinder, Eltern und Betreuer_innen soll praxeologisch untersucht werden, wie sich die (Re-) Produktionsweisen in den 1970er Jahren veränderten. Als Materialgrundlage dienen ihm zeitgenössische und projektbegleitende Studien, Tätigkeitsauflistungen aus der Kleinkindbetreuung, Reanalysen bereits durchgeführter Interviews, die durch von ihm geführte Interviews mit verschiedenen Akteur_innen ergänzt werden sollen sowie pressefotographische Überlieferungen.

RAFAELA SCHMID (Köln) stellte in dem Vortrag ‚Besatzungskinder‘ – Vaterlosigkeit als Erklärungsmuster ‚unvollständiger Identität‘ anhand eines biografischen Beispiels dar, wie öffentliche und wissenschaftliche Diskurse biografische Erzählungen beeinflussen und wie sie an der (Re-)Konstruktion von Kindheitskonstruktionen beteiligt sind. Mit Rückgriff auf den aktuellen Forschungsstand konstatierte sie, dass es ‚das Besatzungskind‘ nicht ohne die Thematisierung des abwesenden biologischen Vaters gebe. Aufgrund von Vaterlosigkeit werde außerdem die Identität der sogenannten ‚Besatzungskinder‘ konsequent als eine ‚gefährdete‘, ‚nicht-gelungene‘ und ‚unvollständige‘ Identität gelesen. In der Fachliteratur zu ‚Besatzungskindern‘ sei eine Identität, um als ‚lückenlos‘, ‚ganz‘ und ‚vollständig‘ zu gelten, an das Wissen um die ‚biologischen Wurzeln‘ und/oder die Anwesenheit des biologischen Vaters geknüpft. Die Betonung der Wichtigkeit des biologischen Vaters, wie auch eine gewisse patriarchale Logik, die den in der Fachliteratur angezeigten psychologischen und psychoanalytischen Identitätsmodellen zugrunde liegen, schließe nicht nur die Mütter, sondern auch die Kinder als aktiv Beteiligte aus.

ANN-KRISTIN KOLWES (Köln) nahm sich in ihrem Vortrag ‚Kriegskinder‘ und der abwesende Vater nach dem 2. Weltkrieg – Konstruktion und Wirklichkeit eines besonderen Verhältnisses ebenfalls des Gesamtkonstrukts des abwesenden Vaters an. Im Rahmen ihres Dissertationsprojektes beschäftigt sie sich mit den Lebensumständen der Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener zwischen 1941 und 1956. Augenmerk legte sie in ihrem Vortrag auf die frühen 1950er Jahre, wobei sie keine explizite Unterscheidung zwischen BRD und DDR vornahm. Kolwes beschrieb eine Diskrepanz zwischen der Art und Weise, wie sich die ‚Kriegskinder‘ über ihren abwesenden Vater äußerten und der heutigen Berichterstattung über das Verhältnis zwischen den Kindern und ihren abwesenden Vätern. Auf Grundlage von autobiografischen Quellen, wie beispielsweise Bittbriefen der Kinder an den Staatspräsidenten der DDR Wilhelm Pieck, mit der Bitte, sich für die Freilassung des kriegsgefangenen Vaters einzusetzen, arbeitet sie die damaligen vielfältigen Arten des Sprechens über den abwesenden Vater heraus, die heute jedoch lediglich auf eine „kollektive Erfahrung“ reduziert seien. Mögliche Erklärungen sieht Kolwes in einer bestimmten resp. bestimmenden Berichterstattung rund um die ‚Generation der Kriegskinder‘ im medialen und öffentlichen Diskurs, in der die unterschiedlichen Gründe der Abwesenheit des Vaters und das damit einhergehende Selbstverständnis der Kinder und Mütter zu einer homogenen Erfahrung gemacht werde.

Mit dem Vortrag Kindheits- und Erwachsenheitskonstruktionen in_durch sozialwissenschaftliche (Kindheits)Geschichten. Erkenntnispotentiale einer de- wie rekonstruktiven Perspektivierung von ANNA FANGMEYER (Halle-Wittenberg) begann der zweite Workshoptag. Im Zentrum ihres Vortrages standen „Möglichkeitsbedingungen und regelmäßige (Un)Sagbarkeiten kindheitssoziologischen Sprechens“, welche sie in Anlehnung an Michel Foucault in der „Diskursgemeinschaft“ der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ausfindig zu machen versucht. Anna Fangmeyer setzt sich mit dem Sprechen über ‚Kinder‘ und ‚Kindheit‘ in der Forschung und dem i.E. damit schon immer einhergehenden Konstruktionscharakter der Forschung selbst auseinander. Forscher_innen befänden sich immer inmitten eines Diskurses und seien dadurch an einer spezifischen Hervorbringung von Kindern und Kindheit beteiligt. Die Frage nach der eigenen Beteiligung an der Hervorbringung von Kindheitskonstruktionen und selbst der Umstand, diese überhaupt als relevant und einschlägig aufzufassen, sei derzeit nicht selbstverständlich.

CLARA ZIMMER (Berlin) und HOA MAI TRAN (Berlin) berichteten in ihrem Vortrag Hervorbringung sogenannter „Flüchtlingskindheit(en)“. Ambivalenzen, Herausforderungen und mögliche Potenziale in der Forschung mit jungen Kindern in Not- und Gemeinschaftsunterkünften aus dem Forschungsprojekt Alltagserleben von geflüchteten Kindern bis 6 Jahren in Gemeinschafts- und Notunterkünften (2016-2017), welches unter der Leitung von Prof. Dr. Anne Whistutz (Berlin) und in Kooperation mit der Fachstelle Kinderwelten (ISTA Berlin) durchgeführt wurde. An den Anfang ihres Vortrags stellten Clara Zimmer und Hoa Mai Tran die Dominanz von Integrationsdiskursen, in denen Kinder mit Fluchterfahrung zu hilfebedürftigen, traumatisierten ‚Objekten‘ homogenisiert würden. Im Anschluss thematisierten sie die Frage nach relationaler Agency, zu verstehen als Handlungsfähigkeit und -möglichkeit, die, eingebettet in konkrete Lebensverhältnisse, räumlich, sozial und zeitlich hervorgebracht werde. Durch Forschungsansätze partizipativer Forschung geleitet, wurden in dem Porjekt Interviews und Beobachtungen im Feld durchgeführt. Die vorgestellten Analysen zeigen, wie (fluide) Grenzmarkierungen dem Handeln Grenzen setzten und wie die aktive Aneignung von Zwischenräumen, Möglichkeiten biete, sich Handlungsfähigkeit zurückzuerobern resp. hervorzubringen.

Der Workshop schloss mit einem Abschlusskommentar von ELKE KLEINAU (Köln) und MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim). Die Workshopbeiträge hätten gezeigt, dass sich im Nachdenken über Kindheit, vielfältige Forschungsinteressen vereinen. So seien sowohl stärker soziologisch gelagerte Fragen wie auch solche einer Pädagogik der frühen Kindheit aufgeworfen worden. Ebenso könnten geschichtswissenschaftliche wie auch dezidiert erziehungswissenschaftliche Zugänge voneinander gewinnen. Durch die Beiträge hindurch sei deutlich geworden, dass Kindheitsforschung ihren Gegenstand ‚Kindheit‘, zunächst konstruieren müsse, um ihn beforschen zu können. Doch das Wissen um die Konstruiertheit des Gegenstandes drohe in Vergessenheit zu geraten. Eine quer gelagerte historische Perspektive, könne dieses Wissen um die Historisierung der Begriffe bereitstellen und die Involviertheit der Forschung in die diskursive Hervorbringung eines Sprechens über Kindheit in den Blick rücken.

Der Workshop setzte neue Impulse für die historische Perspektive im Nachdenken über Kindheit und betonte die Bedeutung, dass Forschende stets ihre eigene Position im Sprechen über Kindheit reflektieren.